Knalliges Rot, strahlendes Orange, leuchtendes Pink, zwischendurch ein sattes Grün und ein kräftiges Blau. Farbenfrohe große und kleine Blumen, Blüten und Dolden begrüßen das Publikum. Doch um was es sich tatsächlich handelt, entdeckt man erst nach und nach: Schraubverschlüsse und Flaschenhälse, Joghurtbecher und Chipstüten, Strohhalme und Plastikbesteck, Verpackungsmaterial und Plastiktüten, sind zu erkennen, aber auch Reste von Tageszeitungen, Werbebroschüren und Faltblättern. Diese viel zu schöne Natur ist künstlich. Marte Kiessling hat sie aus Müll geschaffen. 

Seit fast einem Jahrzehnt setzt sich die in Berlin lebende Künstlerin mit dem widersprüchlichen Verhältnis des Menschen zur Natur auseinander. Im Vordergrund stehen dabei die Sehnsucht nach unberührter Natur und die gleichzeitige Zerstörung der Umwelt durch das kapitalistische Konsumverhalten, das Festhalten am Wachstumsversprechen und die Wegwerfmentalität. 

Der täglich von uns allen produzierte, sorglos weggeworfene Müll, vermischt und in seiner zufälligen Anordnung formlos angehäuft, wird von der Künstlerin sorgfältig sortiert. In dem nicht mehr benötigten, übriggebliebenen, erkennt sie einen kaum wahrgenommenen Reichtum an Farbtönen, eine nie bewusst gesehene Vielfalt an Formen und Strukturen. Sie schneidet, biegt, faltet, klebt und tackert in immer neuen Kombinationen zu fantastischen Pflanzen. In ihrer Farben- und Formenvielfalt, Komplexität und Varianz, aber auch in der Anwendung von Wiederholungen lassen sich Kiesslings Pflanzen mit dem Reichtum der Natur messen. 

Doch beschränkt sich die Arbeit keineswegs auf die scheinbar magische Transformation von Hässlichem hin zum Schönem. Vielmehr stellt sie so offen die Frage, wie schnell sich unsere Sicht auf die Dinge verändert. Wann wird etwas als schön, wann als hässlich wahrgenommen? Wann als wertlos, wann als wertvoll? Wie blauäugig und breitwillig sind wir zu glauben, dass die versuchte Unsichtbarmachung des Mülls durch Weiter-, Wiederverwendung oder Upcycling dem Verschwinden des Mülls gleichkommt? Erschreckend erfolgreich lassen wir uns darüber hinwegtäuschen, dass Müll so weder verringert noch vermieden wird. Auch stellen sich die erschreckenden Fragen, welche Natur wir letzten Endes schöner finden, welche uns mittlerweile vertrauter ist. 

Auf befremdliche Art schön und fast psychedelisch wirken die sich öffnenden und schließenden Blüten der Videos Growth – Flowers die zwischen die dreidimensionalen Blumen projiziert werden. Marte Kiessling hat hierfür Zeitrafferaufnahmen von Blüten digital bearbeitet und auf einen Hintergrund geblendet, der sich erst beim genauen Betrachten als Müll zu erkennen gibt. So schwanken auch diese Blüten zwischen Schönheit und Schrecken, zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit, zwischen Endlichkeit und Ewigkeit. 

Die Plastikblumen und die digitalen Blüten wachsen den Wänden der Galerie entlang, scheinen zu wuchern und drohen unkontrollierbar den ganzen Raum einzunehmen. Was romantisch wäre, wenn es sich um natürliche Blumen handelte, wird hier zu einem Sinnbild für die weltweit überquellenden Deponien und ständigen wachsenden Müllinseln der Ozeane. 

Dieser Kampf um Raum findet sich auch in den Zeichnungen und Drucken der Serie Islands. Sie entlarven die Naivität der Vorstellung, aus dem in sich geschlossenen System aussteigen zu können, indem man sich auf einsame Inseln zurückzieht. Die steilaufragenden Felseninseln bieten kaum Platz für die darauf errichteten futuristisch anmutenden Architekturen, paradoxerweise erbaut von Menschen, die sich doch nach einer Versöhnung mit der Natur sehnten.

Text: Katharina Maria Raab